Ousmane

Zur Behandlung bei einem westafrikanischen Fetischheiler

von Andreas Kirchgäßner



Ein Klatschen hallt durch das Zimmer. Mühsam drehe ich mich auf meinem Lager um. Die Gliederschmerzen sind wieder stärker geworden. Ich rufe dem Klatschenden, hereinzukommen und weiß nicht, ob die spärlichen Laute aus meiner Kehle bis zu ihm dringen. Zwei staubige Füße treten in mein Blickfeld. Flip-Flap nennt man hier diese Gummischlappen, nach dem Ton beim Gehen. Darin stecken schwarze Füße, stark geädert. Breite Zehen, Hornhaut unter den hellen Ballen. Harte, gegerbte Füße, für die es das ganze Jahr kein festes Schuhwerk gibt.

Leonardo da Vinci fällt mir in meinem fiebernden Zustand ein. Anhand nur eines Fingers soll er das Antlitz des dazugehörigen Menschen rekonstruiert haben. Ob ihm auch ein Zeh, und zwar ein afrikanischer, dazu gereicht hätte? Nun wird dieses befußte Wesen nicht an mein Krankenlager kommen, nur um mir seine Füße vorzuführen. Ich befürchte, es wird mich in mehr verwickeln und wende langsam den Kopf, fahre den verblichenen, bräunlichen Stoffetzen hinauf, der einmal die Beine eines Europäers gekleidet haben dürfte. Gehalten wird die Hose von einer Kordel, die um den bloßen, dürren Bauch geschlungen und vorne verknotet ist. Kurz darüber beginnt ein blaues, nein violettes, durchsetzt von weißlichen und bläulichen Flächen, ein Hemd, und auf der Brust steht: "Lacoste". Der Träger dieses Hemdes ist von kleinem Wuchs, aber das Hemd hat die Maße eines Heranwachsenden. Es hängt verloren in der Luft, flattert losgelöst da oben herum, ein Gaffel-Segel. Aus den kurzen Ärmelröhren staken dünne Arme. Die eine Hand hängt entspannt, während die andere zu einem flachen Kelch geformt sich auf mich zubewegt. Die ganze magere Gestalt krümmt sich in eine Hocke. Eine Geruchswolke von würzigen Pflanzen geht über mein Lager. Er hält mir seinen Handkelch unter die Nase. Ich verrenke mir den Hals, um liegend den Inhalt des Kelches sehen zu können. Ein Pulver von der Farbe gebrannten Sienas. Seine Konsistenz so fein, daß es mir in der Nase kitzelt.

Ich suche das Gesicht des Mannes, um auszuloten, was mich nach Einnahme dieses Pulvers erwarten könnte. Der schmale Kopf sitzt auf einem erstaunlich langen, säulenartigen Hals. Mund und Nase stehen breit, ein Zug Ironie darin, kontrastieren das kleine Kinn und die knorpeligen Ohren. Sein Blick gelassen, fast teilnahmslos. Unmöglich, auch nur sein Alter zu schätzen. Eine Mischung aus Kind und Greis. Ganz zu schweigen von der Frage, ob er es gut mit mir meint. Ich nicke, um irgendeine Reaktion zu zeigen. Er nimmt mit der anderen, der entspannten Hand, deren Äderung bis in die Fingerspitzen einer Landkarte gleicht, nimmt mit zwei seiner langen Finger, zwischen die hellen Innenflächen der Kuppen soviel Pulver aus der einen Hand, wie er mit den Fingerspitzen greifen kann und führt es mir in den Mund, legt es mir auf die Zunge. Ein metallener Geschmack breitet sich aus. Dann, in Sekundenschnelle, zieht sich der Innenraum meines Mundes zusammen, trocknet der Speichel. Ich würge, weil ich nicht mehr schlucken kann. Versuche, das Pulver mit der Zungenspitze zwischen die Lippen zu transportieren, um es wieder auszuspeien. Es klebt brennend an meinen Lippen, während ich es prustend zu löschen versuche. Mit erstaunlich flinken Bewegungen gießt der Mann Wasser in einen Becher und setzt ihn mir an den entflammten Mund. Ich stürze die Feuchtigkeit gierig hinunter, reiche ihm den Becher, und er füllt nach.

Ich bin verunsichert, weiß nur, daß diese Magenkrämpfe da sind. Will etwas sagen, aber der Ton steckt mir im Hals. Ein ungelenkes Krächzen ertönt. Verschlucke es schnell wieder, befürchte, mit dieser Stimme zum Gespött zu werden. Dann besinne ich mich. Zwischen Entschluß und Ausführung vergeht wieder eine unbestimmte Zeit des Halbwachen, der langsamen Selbstversicherung. Verorten der Erinnerungen, Vergegenwärtigen meiner vermutlichen Lage. Schwer genug, denn die Magenkrämpfe fressen die Gedanken. Schließlich bündle ich die Kräfte, erkläre den Moment für unaufschiebbar und rolle mich vom Lager. Rappele mich behutsam auf, auf die Knie, in die Hocke, verliere das Gleichgewicht, strauchle. Mein Blick fällt beiläufig auf jene wohlbekannte Hose. Wie zwei Säulen erheben sich seine Beine direkt vor mir. "Du kommst mit mir!" Die Entschiedenheit in seiner Stimme verbietet jede Rückfrage, zumal weitere Helfer den Raum betreten. Während man mir aufhilft, lalle ich:
"Hunger!".
"Kein Problem," sagt er. Und ich suche, was mich an diesem "kein Problem" stört, gewaltig stört, nämlich sein häufiger, geradezu inflationärer Gebrauch in Afrika, und zwar immer dann, wenn es wirklich Schwierigkeiten gibt. Während ich also überlege, wie ich mich in meinem Zustand aus den Klauen eines Mannes befreien kann, der "kein Problem" sieht, verfrachten sie mich bereits hinten in ein Taxi. Draußen warten zahlreiche Helfershände darauf, den Wagen anzuschieben, den Berg hinauf, wo ein Ruck durch das Fahrzeug geht, der Auspuff schwarze Wolken speit, der Motor losknattert und eine Fahrt heraus aus der Stadt und quer durch den Busch beginnt.
"Ich heiße übrigens Ousmane", sagt der Mann. Ich aber denke, von den Erschütterungen des Fahrzeugs malträtiert, nur an das Reißen und Zerren in meinem Darm, das aus den Tiefen heraufziehende Gewitter, bis ich nicht mehr anders kann als "Halt!" zu brüllen und in den Busch zu stürzen, um mich dort zu entleeren.

Nach einer Tour durch die Wildnis, deren Verlauf ich mit meinen Exkrementen markiert habe, sind wir endlich da. Ich werfe einen Blick auf den Hof, den Ousmane mir als seine "Praxis" angekündigt hat. Blaßocker der gestampfte Lehmboden. Smaragdene Eidechsen huschen darüber. Eine scheint mich zu betrachten. Hält inne, nickt mir zu und flitzt weiter. In der Mitte des Platzes ein kleiner Baobab, an dessen Fuß eine Tonschale steht, gefüllt mit schillerndem Brei, der mit Federn garniert ist. Darüber lebt die Luft von einer Fliegenschwade. Allerhand Viehzeug. Hühner, Truthähne, Ziegen und ein magersüchtiger Hund laufen aufgescheucht hin und her. Am Rande des Hofes die Feuerstelle, dahinter eine Lehmhütte, deren Eingang bleiche Tierschädel zieren. In der glacierten Luft steht ein zirpender Ton.

Aus der Hütte tritt uns ein junger Mann entgegen. Ein Lachen springt aus seinem Gesicht. Die Wangen mit Schönheitsnarben verziert und die Augenränder schwarz geschminkt. Der Mann geht schnurstracks auf Ousmane zu:
"Hast du's?" Er berührt mit den Lippen beinahe Ousmanes Ohr.
"Mein Fulani", erklärt Ousmane und grinst. Der Fulani wird unruhig. Erst Ousmanes großmännischer Griff in die Brusttasche läßt ihn erleichtert aufatmen. Ousmane fingert zwei Zigaretten hervor. Eine gibt er dem Fulani, eine steckt er sich selbst in den Mund und der Fulani läuft und holt einen glühenden Scheit. Zunächst gibt er Ousmane Feuer, um dann selbst den heißen Rauch einzusaugen. Beide stehen eine Weile, ganz eingenommen vom Inhalieren, vom Innehalten in ihren Lungen, vom langsamen Entweichenlassen des Qualmes aus Nasen und Mündern. Versonnen betrachten sie die in der Luft stehenden Schwaden.
"Jetzt bezahl!" durchbricht Ousmane plötzlich das meditative Schweigen. Es ist, als habe er dem Fulani einen Stoß versetzt, denn dieser stolpert rückwärts, die Hände abwehrend gegen Ousmane erhoben:
"Du weißt genau, ich hab kein Geld!"
"Ich weiß", bemerkt Ousmane lakonisch. Dann erzählt er, daß der Fulani stets vor dem Mittag eineinhalb Stunden auf seinem, Ousmanes Fahrrad durch den Busch zum nächsten Händler fahre, um von Ousmanes Geld zwei Zigaretten zu erstehen. Daß sie beide dann über Mittag hier lägen, er auf seinem Bett, sein Fulani auf dem Boden, und daß sie die beiden Zigaretten rauchten, die sie zwischendurch ausdrückten, um sie später wieder anzuzünden. Ursprünglich sei der Fulani nur als Wanderarbeiter hierher gekommen, nur für die Dauer einer Ernte, für die er ein Huhn und warmes Essen erhalten habe. Für diese Bezahlung arbeite er nun bereits seit Jahren bei ihm. Jedenfalls horte der Fulani das Geld, das er aus dem Verkauf der Hühner erziele. Zu essen habe er ja hier. Und so komme es, daß er selbst stets pleite, sein Fulani aber betucht sei, ein Zustand, der oft Anlaß zu Streit gebe, zumal der Fulani sein Geld niemals verleihe, sondern lediglich darauf schlafe.

Ousmane winkt mich in seine Hütte. Der Raum ist eine Müllhalde. Alles liegt voll. Plastiktüten, Gläser, Flaschen. Erdhäufchen und Sand. Drahtreste, Schnüre, Stoffetzen. Man weiß kaum, wohin man treten soll. An den Dachsparren hängen Fetische und Ketten. Ich sehe stoffumwickelte Haarbüsche, von schwarzem Blut verklebte Knochen und Hörner, Schlangenhäute und Vogelfedern. Neben getrockneten Eidechsen hängt auch ein Affenschädel. Ousmane, der mein Interesse bemerkt, erläutert, welche Ausschläge zum Beispiel eine Person bekommt, deren Juju er ansengt, was ihr widerfährt, wenn er den Talisman in Termitenhaufen legt, und was, wenn er ihn mit einem Messer zerteilt. Dann zeigt er mir einen Metallring mit langem Griff, und fordert mich auf, ihm ein Stück Stoff von mir zu geben. Da ich über nichts anderes verfüge, trenne ich einen Streifen von meinem Hemd ab. Er umwickelt den Ring damit.

Nachdem die Mittagsglut über die Hütte hinweggegangen ist, so heiß, daß es selbst den Vögeln die Stimme verschlug und eine vollkommen regungslose Phase der Lethargie sich Stunden hinzog, wende ich mich, von Magenkrämpfen geschüttelt, an Ousmane, um zu erfahren, wie er mir zu helfen gedenkt. "Doucement, doucement!" vertröstet er mich. In der anhaltend infernalen Hitze versinke ich in eine Art Koma.

Am nächsten Morgen führt Ousmane mich in den Busch. Es gelingt mir kaum, mit ihm Schritt zu halten. Immer wieder stolpere ich, weil meine Beine mir nicht gehorchen. Dann stehen wir an einem Termitenhaufen. Ousmane holt "meinen" Ring hervor und legt ihn in den Haufen. Dann eröffnet er mir, er müsse den "Erdherren" zunächst gütig stimmen. Dazu bedürfe es einiger Krüge Hirsebier, die ich zu besorgen hätte. Außerdem brauche er fünf Hühner, einen noch nicht geschlechtsreifen Ziegenbock, Salzsteine, Schildkrötenpanzer. Ich gebe zu verstehen, daß meine Kraft nicht reicht, um bis in die Stadt zurückzufahren und all diese Medizin zu besorgen und hoffe insgeheim, damit aus der Behandlung entlassen zu werden. Ousmane aber schickt seinen Fulani mit dem Fahrrad und meinem Geld los, um alles zu besorgen.

Zu diesem Zeitpunkt weiß ich noch nicht, daß es zwei Tage dauern wird, bis der Fulani schlingernd zurückkehrt, reichlich betrunken und mit einer Schar von Helfern. Abgerissene Gestalten, die ihm die erworbenen Utensilien hinterher tragen. Auch sie wanken beachtlich, als sie mir verschnürte Bündel vor die Füße werfen und die Hände aufhalten. Ich zahle. Kichernd verschwinden sie wieder im Busch. Zurück bleiben die Bündel, von denen einige sich am Boden winden. Jämmerliche Laute dringen aus ihnen hervor. Ich beginne sofort, die gequälten Kreaturen zu befreien.
Kaum habe ich das Böckchen aber auf seine wackligen Beine gestellt, schneidet Ousmane ihm ohne Vorwarnung oder Zeremonie die Kehle durch. Ein saugender Ton fährt aus der durchtrennten Luftröhre. Zuckend bricht das Tier in die Knie. Das Blut läuft zu einer Pfütze auf dem Lehmboden zusammen. Ousmane ruft den betrunkenen Fulani herbei und läßt ihn das Feuer entfachen. Inzwischen bindet er dem Bock mit einer Schlinge die Luftröhre ab, stößt ihm am Hinterlauf ein Schilfrohr durchs Fell und beginnt ihn aufzublasen. Bald gleicht das Tier einem Ballon. Mit dem Messer trennt er vom Bauch her das Fell vom Körper, trennt den Kopf vom Rumpf und hängt ihn mit Gemurmel in den Baobab. "Für die Geister", erklärt er, während er sich schon wieder dem geschälten Bock zuwendet, ihn aufschneidet, Herz und andere Innereien heraustrennt und das Fleisch in Stücke zerteilt. Kaum eine halbe Stunde nach der Rückkehr des Fulani brutzeln kärgliche Reste des Tiers über dem Feuer. "Jetzt die Hühner", erklärt Ousmane, und ich befürchte ein neuerliches Massaker. Zu meiner Überraschung entfernt er ihnen jedoch lediglich die Fußfesseln und verscheucht sie. Aufgeregt flattern sie zu ihren Artgenossen. Von Zeit zu Zeit meine ich, eines meiner Opferhühner wiederzuerkennen. Sicher bin ich mir nicht. Ich frage Ousmane nach der Bewandtnis und erfahre, daß die Hühner Indikatoren für den Erfolg meiner Behandlung sein werden. Verirren sie sich im Busch oder sterben an einer Krankheit, so werden seine Worte nicht erhört, die Opfer verschmäht. Dann kann die Behandlung nur fehlschlagen. Bleiben sie jedoch am Hof, so erhören die Ahnen sein Wort und nehmen die Opfer an. Dann habe die Behandlung Erfolg.

Als der Fulani zum Essen ruft, werde ich Augenzeuge eines regelrechten Nahkampfes. Ousmane und er ringen um den besten Platz am Topf, fischen - offenbar gegen Verbrennungen gefeit - die besten Stücke aus dem siedenden Palmöl, um sie in Hemdfalten, Hosentaschen und zwischen den Beinen verschwinden zu lassen, nicht ohne den anderen zu warnen, ihm zu nahe zu kommen. Als ich am Topf Platz nehme, schmoren darin noch ein paar Knöchlein. Die beiden wenden sich ab und machen sich über ihre Vorräte her. Ich begnüge mich mit etwas kaltem Fufu. Dann staune ich noch ein zweites Mal. Nachdem sie nämlich das Fleisch abgenagt haben, beginnen sie unter beachtlicher Geräuschentwicklung, die Knochen zu verzehren. Sie knacken sie zwischen den Zähnen und zermalmen sie dann im Mund, bis tatsächlich nichts mehr übrig ist.

In Erwartung, daß auch an diesem Tag nichts mehr passiert, döse ich im Schatten des Wellblechdaches. Ich merke, wie ich immer lethargischer werde. Eine Krankheit, die - neben Durchfall, Erbrechen und Fieber - in eben dieser Antriebslosigkeit besteht, einer schier unüberwindlichen, bleiernen Müdigkeit. Sie beginnt mit dem Moment, an dem ich mich morgens erhebe und endet nicht bevor ich abends wieder liege.

"Tssst!" Ousmane zischelt und macht mit dem Kopf eine kleine Bewegung zum Busch hin. Es dauert eine ganze Weile, bis ich begreife, daß er mich meint. Schwerfällig erhebe ich mich und folge ihm.

Der Fulani, soeben im Erdnusfeld beschäftigt, springt auf und rennt uns hinterher, stürzt über einen Yamshügel, richtet sich wieder auf und rennt.
"Was zahlst du?" fragt mich Ousmane unvermittelt.
"Äh, wieviel soll es kosten?"
"Zehntausend."
"Oh, das ist zu viel!"
"O.k. Gib Sechstausend."

An Büschen und Bäumen vorbei, die er bespricht, führt er uns zu dem Termitenhügel, in dem der Metallring liegt. Bedächtig und unter Gemurmel holt er den Ring heraus. Ich erschrecke, denn den Stoff meines Hemdes haben die Tierchen nahezu vollständig verspeist. Ousmane aber hält das für ein gutes Omen. Vergnügt mit dem Fulani plaudernd kehrt er an den Hof zurück. Dort suche ich meine fünf Hühner. Ich entdecke kein einziges mehr.

© Andreas Kirchgäßner
siehe auch: http://members.aol.com/kirchgaess/

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