AUSFLUG MIT SESAL


Eine Hexengeschichte für Kinder
von Andreas Kirchgäßner

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Eigentlich waren Ernie und Berta ganz schön sauer. Statt in Köln Karneval zu feiern, ist Mama mit ihnen nach Süden an den Kaiserstuhl gefahren. In das Dorf, aus dem sie herkommt.

"Die alemannische Fasnacht ist viel beschaulicher", hat sie gesagt. Dabei will sie nur in Ruhe mit ihren alten Freundinnen solchen sauren Wein trinken. Und Ernie und Berta sollen sich alleine den Fasnachtsumzug ansehen.

"Das ist auf dem Dorf ganz ungefährlich!" behauptet Mama.
Ernie und Berta mischen sich also unter die Zuschauer, die auf den Umzug warten. Und bald kommen die Hexen aus dem Schwarzwald in langen Zügen ins Dorf. Mit hölzernen Masken, schielenden Augen, warzigen Nasen und langen Besen. Ernie und Berta aber sind keine Babys mehr und wissen, daß dies keine echten Hexen sind. Deshalb laufen sie auch nicht weg, als die Hexen mit ihren Besen zwischen die Schaulustigen fahren, Zuschauer rauben und in ihrem Leiterwagen mit Stroh abreiben. Ernie und Berta haben genau beobachtet, daß nur die älteren Mädchen mit blonden, langen Haaren geraubt werden. Kinder werden nirgendwo geraubt. So gruselig der Auftritt der Hexen wirkt, so erleichtert sind Ernie und Berta darüber, daß sich hinter den Masken ganz normale Erwachsene, manchmal sogar Kinder verbergen, die nur ihren Spaß haben wollen.

Dann aber müssen sie doch schlucken. In einem besonders wilden Zug, in dem die Hexen schon gar nicht mehr gerade gehen können, oft ihre Masken abziehen, um von solchem sauren Wein zu trinken, geht eine Hexe, die auch eine lange Nase hat. Wer aber Augen im Kopf hat, der sieht, daß diese Hexe keine Maske trägt. Wenn sie aber keine Maske trägt, was trägt sie dann vor dem Gesicht? Gar nichts! Sie hat ein Gesicht, das so aussieht, wie die Masken der anderen. Und keiner merkt es.
"Ach Quatsch," sagt Ernie. Aber Berta merkt, daß er wirklich Angst hat. Sie faßt sich ein Herz und schleicht durch die torkelnde Menge. Ernie folgt ihr, denn ganz allein lassen will er seine kleinere Schwester doch nicht. Bei der seltsamen Hexe angelangt fragt Berta gerade heraus: "Bist du etwa eine echte Hexe?"
Die Hexe erschrickt und starrt Ernie und Berta an, daß ihnen fast das Blut gefriert. Dann sagt sie:
"Na klar, ich bin die Hexe Sesal. Aber zum Glück hat's noch niemand bemerkt!" "Ich glaub der kein Wort!" sagt Ernie. Aber seine Stimme zittert. Da wird die Hexe sauer, klemmt sich zum Beweis den Besen zwischen die Beine und zischt ab wie eine Rakete. Sie dreht eine Runde über die Dächer und kommt im Sturzflug zu Ernie und Berta zurück. "So, jetzt glaubt ihr's mir wohl! Und wer seid ihr?" fragt sie. Ernie macht den Mund auf, bekommt aber keinen Ton heraus. Dafür redet Berta:
"Wir heißen Ernie und Berta und kommen aus der Stadt Köln. Wir wohnen dort im obersten Stock vom höchsten Hochhaus. In Köln wird jetzt auch gefeiert. Aber es heißt dort nicht Fasnacht, sondern Karneval. Hexen gibt's da jedenfalls fast nie! " Die Hexe Sesal hört aufmerksam zu und Berta will ihr noch viel mehr erzählen. Doch um sie herum ist den Maskenträgern und Schaulustigen nicht entgangen, daß da eine Hexe durch die Luft geritten war. Zwar wird zu Fasnacht allerhand erstaunliches angestellt: Es werden Fensterläden ausgehängt und weggetragen, Strohschuhe durch die Luft geschleudert, Autoantennen abgebrochen, es wird auf der Straße getanzt, viel rumgeknutscht und die Erwachsenen trinken jede Menge von dem eklig sauren Wein. Wenn aber jemand auf einem Besen über die Dächer fliegt, geht das eindeutig zu weit! Deshalb rennen jetzt alle auf die Hexe Sesal los, um sie zu fangen. Die gibt ihnen kurzerhand eins auf den Deckel, schwingt sich auf den Besen und reitet in die Luft. Die Leute strecken die Arme nach ihr aus. Sie aber saust gerade so hoch über sie hinweg, daß niemand sie packen kann. Dabei ruft sie Ernie und Berta zu, daß sie sie im Sommer besuchen wird, wenn sie sich auf die weite Reise zum Blocksberg macht. Und mit diesen Worten steigt sie über die Dächer auf, winkt noch einmal und stößt in eine Wolke vor. Alle reiben sich die Augen. Aber niemand sieht sie mehr.

Noch oft erzählen sich Ernie und Berta vor dem Schlafen von der Hexe Sesal. Ernie liegt unten, Berta oben im Doppelbett. Ernie kann durchs Fenster oben die Sterne sehen, Berta unten die Lichter der Stadt. Denn sie wohnen im größten Hochhaus von Köln in der obersten Etage. Aber sie warten nun schon so lange darauf, daß sich die Hexe Sesal meldet, daß sie langsam selbst nicht mehr daran glauben. Und so hören sie auch auf, von ihr zu reden.

An Walpurgisnacht jedoch klopft es an ihr Fenster. Andere Kinder würden sich erschrecken, weil sie vielleicht einen Räuber oder sonstwas vermuten. Wer aber, wie Ernie und Berta, im obersten Stock des höchsten Hochhauses von Köln wohnt, weiß, daß nachts nur eine Hexe von außen ans Fenster klopfen kann. Sofort springt Ernie aus dem Bett und öffnet ihr das Fenster.

"Zieht euch was Warmes an. Der Flugwind kann verdammt kalt werden!" sagt die Hexe Sesal. Im Handumdrehen sind Ernie und Berta in warmen Kleidern. Ernie aber hat Bedenken, daß ihre Eltern sie vermissen werden. Da verspricht die Hexe Sesal, die Kinder noch in dieser Nacht wieder zurückzubringen. Sie nimmt den ängstlichen Ernie vor sich auf den Besen. Berta steigt hinter ihr auf und klammert sich an ihr fest. "Jetzt festhalten!" ruft Sesal und schwupp fliegen sie aus dem offenen Fenster und über Köln hinweg. Die Straßenlaternen da unten sind wie kleine Lichterketten. Und wie Glühwürmchen schimmert es aus Häusern, in denen noch Licht brennt. Dann geht's im Sauseflug über Berge und Wälder, die alle nur wie Schatten vorbeihuschen. Bis sie endlich wieder ein helles Licht sehen. Berta vermutet, daß es sich um eine andere Stadt oder ein Dorf handelt. Aber das Licht flackert und die Hexe Sesal erklärt, daß dies ein großes Feuer ist: Das Walpurgisnachtfeuer auf dem Blocksberg! Sie steuert den Besen nun direkt darauf zu. Von allen Seiten her kommen Hexen auf ihren Besen angeflogen. Schon sehen Ernie und Berta um die hohen Flammen wilde Gestalten tanzen. Die alten Weiber schmieren sich dabei mit einer Salbe voll.
"Ist das Niveacreme?" fragt Berta. Sesal muß über die Frage lachen:
"Du meinst wohl, Hexen wollen eine Babyhaut haben. Nein!: Das ist Flugsalbe. Davon wird ihnen so schwindelig, daß sie immer wilder tanzen!"
Doch bevor Sesal mit ihnen landen kann, starten ein Paar Hexen vom Blocksberg, fliegen zu beiden Seiten neben Sesal und den Kindern.
"Sesal, verdammt, wen bringst du denn da mit?" schreien sie gegen den Flugwind an. "Freunde!" schreit Sesal zurück.
"Aber das sieht doch eine blinde Katze bei Nacht, daß die beiden Bälger keine Hexen sind. Und nur Hexen haben Zutritt zum Blocksberg."
"Wenn ich an ihrer Hexenfeier mitmachen konnte, warum sollen sie dann nicht auch mal auf unsere kommen?!" verteidigt sich Sesal. Aber die Angreiferinnen drängen Sesal und die Kinder immer weiter ab, bis Sesal schließlich hinter den Bergen landet. "Dann bring uns halt wieder nach Hause!" sagt Berta.
"So schnell gebe ich nicht auf!" antwortet Sesal. Eine Weile sagt keiner was. Ernie und Berta sind ein wenig enttäuscht. Und Sesal denkt laut nach. Leider tut sie das in einer Sprache, die Ernie und Berta nicht verstehen können. Nach dieser Weile jedenfalls hat Sesal eine Idee. Sie fordert die Kinder auf, zu warten, schwingt sich alleine in die Luft und saust wie ein Pfeil in die Nacht. Gerade, als es Ernie und Berta langweilig wird, ist sie wieder da. Und bei sich hat sie einen Sack. Den öffnet sie eilig und holt zwei Fasnachts-Hexen-Masken heraus.
"Die werden zu dieser Jahreszeit sowieso nicht gebraucht", erklärt Sesal. Ernie und Berta probieren die Masken an. Sie riechen ein bißchen muffig, aber sie passen. Dann holt Sesal auch Kopftücher, Kleider, Schürzen und Strohschuhe aus dem Sack. Ernie und Berta ziehen sich alles an und sehen bald wie Fasnachtshexen aus. So verkleidet steigen sie zu Sesal auf den Besen und hui geht's im Tiefflug zurück zum Blocksberg. Zum Glück sind die Hexen jetzt schon so voll mit der Flugsalbe, die schwindelig macht, daß sie nicht mal bemerken, daß da drei Hexen auf nur einem Besen geflogen kommen. So wild, wie sie um das Feuer tanzen, merken sie rein gar nichts mehr. Und Ernie und Berta toben und rennen mit ihnen herum, daß es eine Freude ist. Sesal reibt sich ordentlich mit Flugsalbe ein und tanzt mit.
Doch plötzlich trauen sie ihren Augen nicht mehr: Die Hexen werfen ihre Besen weg und verwandeln sich in Fledermäuse und Käfer, in Eichhörnchen und Ratten. Immer mehr Hexen werden zu solchen Tieren und ziehen mit den anderen Tieren um das Feuer. Als auch Sesal sich in eine Eule verwandelt, sind Ernie und Berta die letzten Hexen am Feuer. Und so dick sich die Hexen auch mit der Salbe, die schwindelig macht, vollgeschmiert haben, so merken sie doch, daß mit den beiden was nicht stimmt. Sie kreisen sie ein und fauchen. Sie zwicken sie und beißen ihnen in die Waden. Sie keckern ihnen auf den Kopf und fliegen ihnen durchs Haar. Vor Schrecken reißen sich Ernie und Berta die Masken vom Gesicht. Jetzt erkennt auch die letzte Hexe, daß sie sich eingeschlichen haben. Da erst werden sie so richtig sauer und piesacken die beiden noch mehr.

"Ich glaub, wir verduften mal besser!" ruft die Eule Sesal vom Baum herab. "Wenn ich nur nicht so viel Flugsalbe genommen hätte! Schmeißt schnell die Besen ins Feuer, damit uns die anderen nicht verfolgen können. Neeeeiiiiinnn, doch nicht meinen Besen, ihr Dummies!"
Im letzten Moment zieht Berta Sesals Besen wieder aus dem Feuer. Das Reisig brennt bereits, als Ernie und Berta auf dem Stiel sitzen. Die Eule Sesal fliegt auf Ernies Schulter, murmelt einen Zauberspruch und ab geht die Post! Wer in dieser Nacht zum Himmel schaut, glaubt eine Rakete zu sehen. Denn das brennende Reisig sieht aus, wie ein Düsenantrieb. Der Fahrtwind macht Sesals Kopf wieder klar. Sie verwandelt sich flugs in die Hexe zurück, hält sich an Ernie und Berta fest und lenkt den Besen immer sicherer.

Als sie über Köln sind und sich dem höchsten Hochhaus nähern, erschrecken alle drei: Das Fenster zu Ernie und Bertas Schlafzimmer ist verschlossen. Mama muß mal wieder aufgewacht sein. Gegen Zugluft ist sie sehr empfindlich. Ob sie im Schlaf das Fenster geschlossen hat, oder ob sie wach war? Wenn sie gesehen hat, daß das Fenster auf und Ernie und Berta weg sind, wird sie die Polizei, den Krankenwagen und die Feuerwehr gleichzeitig bestellt haben, außerdem Papa wachgerüttelt, die Nachbarn aus dem Schlaf geklingelt ... kurz: Dann wird die Hölle los sein. Da aber nirgendwo in der Wohnung Licht brennt, scheint alles noch mal gut gegangen zu sein. Fragt sich nur, wie sie jetzt durchs geschlossene Fenster reinkommen sollen. Sesal überlegt. Dann hat sie eine Idee. Sie lenkt den Besen so nah ans Fenster, daß der Stiel schon die Scheibe berührt. Dann verwandelt sie sich in eine Mücke, schwirrt durch die Lüftung in die Wohnung, durch die Wohnung in Ernie und Bertas Zimmer. Dort verwandelt sie sich zurück, öffnet das Fenster und zieht den Besen ins Zimmer hinein.
Alle wollen nun im Kinderzimmer fürs Erste Abschied nehmen, da geht im Flur das Licht an.
"Verflixt! Ich hab doch eben erst das Fenster zugemacht!" schimpft Mama. Diesmal macht sie das Licht im Kinderzimmer an. Ein Windstoß pustet ihr die Haare vors Gesicht. Sie reibt sich die Augen, geht zum Fenster und schaut am Hochhaus hinab. Zum Glück hat sie nicht nach oben gesehen, wo Sesal noch einen Kreis zieht, um dann endgültig abzuschwirren. Sie schließt das Fenster besonders gründlich. Dann wendet sie sich Ernie und Berta zu. Die beiden liegen in ihren Betten und sehen aus, als würden sie schlafen. Mama will schon das Licht ausmachen, als Berta sich noch einmal reckt.
"Sag mal, Berta, was ist hier eigentlich los?" fragt Mama. Sie deckt beide Kinder auf. Und tatsächlich: Beide sind noch in ihren warmen Kleidern. Jetzt will Mama wissen, was geschehen ist. Und weil ihnen so schnell nichts besseres einfällt, erzählen sie die ganze Geschichte mit der Hexe Sesal. Von Fasnacht am Kaiserstuhl, vom Flug zum Blocksberg, den verwandelten Hexen und dem brennenden Besen."Ihr seid mir vielleicht ein paar Träumerle!" sagt Mama. "Aber jetzt wird geschlafen und das Fenster bleibt zu!"

© Andreas Kirchgäßner


E-Mail an den Autor: kirchi1@aol.com

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